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Noch neunundneunzig Tage bis zur Schließung des Lügenmuseums

Gerade wurden 10.000 neue Flyer für das Lügenmuseum bestellt, drei Kunstprojekte gestartet und eine umfangreiche Ausstellung zu den 35 Jahren der Friedlichen Revolution im Herbst im Lügenmuseum und in der St. Marienkirche in Frankfurt (Oder) geplant. Der Verein hat eine ukrainische Bundesfreiwillige eingestellt, während sich eine weitere Freiwillige aus Venezuela bereits seit einem halben Jahr engagiert und Videos für den eigenen Kanal des Lügenmuseums produziert. Ein neuer Museumsshop mit einer eigenen Edition wurde eröffnet, das Museum wurde komplett überarbeitet und am Ende des Museumsrundgangs wurde ein neuer leerer Ausstellungsraum eingerichtet.

Fördermittel des Landes und des Bundes wurden eingeworben, nicht für die Immobilie, dafür die Stadt zuständig ist, sondern für die Entwicklung des Museums. Diese Mittel sind auch an den Bestand des Lügenmuseums gebunden.

Der bestehende Mietvertrag mit einer Aussicht auf ein Pachtverhältnis für das Lügenmuseum wurde vom Oberbürgermeister der Stadt Radebeul zum 31.08.2024 alternativlos gekündigt. Wir fielen aus allen Wolken, mit einer Kündigung hatte niemand gerechnet.

Diese Kündigung erfolgte ohne Absprache mit dem Kulturamt und kurz vor der Verabschiedung des Kulturentwicklungskonzepts durch die Stadträte im Juni 2024, in dem das Lügenmuseum als soziokulturelles Zentrum verankert ist. Die Prinz Rupi Stiftung zog ihr Kaufangebot zurück. Einen triftigen Grund für die Kündigung gibt es nicht.

Das einzigartige und unvergleichliche Kleinod, das direkt und ortsbezogen in das denkmalgeschützte Gebäude eingepasst wurde, wird nur noch 99 Tage existieren. 

Es gibt inzwischen 17 Ausstellungsräume, vier Archive, vier Vor- und Nachlässe und eine umfangreiche Sammlung. Dies muss bewertet werden, denn der Wert der Sammlung übersteigt um das Zehnfache den Wert der Immobilie. Es müssen 20 Tausend Objekte katalogisiert, die räumlichen Konstellationen dokumentiert und anschließend verpackt und klimagerecht gelagert werden. Allein die Himmlischen Chöre von Jan Heinke mit einer Höhe von 6,20 Metern müsste ein Gerichtsvollzieher abbauen und verschrotten.

Vorgeschichte:

Das Lügenmuseum existiert seit zwölf Jahren in Radebeul. Im Jahr 2012 beschlossen die Stadträte von Radebeul, das Lügenmuseum im alten Gasthof Serkowitz unterzubringen. Es wurde ein Mietvertrag abgeschlossen, der im Nachtrag festhielt, dass der Mietvertrag bis zum Abschluss eines Erbbaupachtvertrages gültig sei.

Als Vorbereitung für den Erbbaupachtvertrag haben wir im Jahr 2013 ein 100 Seiten starkes kulturtouristisches Konzept vorgelegt, das wesentlich umfangreicher war als das derzeitige Kulturkonzept der Stadt Radebeul. Dieses Konzept wurde in Zusammenarbeit mit einem Experten für Kreativwirtschaft erarbeitet.

Jedoch erhielten wir keine Antwort, noch begannen Verhandlungen zur Vorbereitung des Erbbaupachtvertrages. Wir baten und bettelten, wurden von Wahl zu Wahl hingehalten.

Nach umfangreicher Reparatur und Renovierung eröffnete das Museum am 9.9.2012. Damit begann ein neuer Abschnitt seiner Erfolgsgeschichte. Inzwischen ist das Lügenmuseum ein lebendiges Kulturzentrum mit freiwilligen Mitarbeitern, Marketingaktivitäten und Projekten in Dresden, Leipzig und international. Es beschäftigt sich mit Lügen und Illusionen, nutzt Kreativität als Spezialwissen, kultiviert widerständige Kulturtechniken und greift Fragen nach Heimat und Identität auf. Es handelt von den 68ern in Ostdeutschland, von Zeugnissen des aufrechten Ganges in Zeiten der Unterdrückung und Zersetzung, von Widerstand und Kulturtechniken der Friedlichen Revolution und der nachfolgenden Transformation sowie von unabgeschlossenen Verlusten.

Man muss sich vorstellen, was es bedeutet, in einem unsanierten Gebäude ein derartig komplexes Museum in 17 Räumen aufzubauen, inklusive Depot, Werkstätten und einem Garten hinter dem Haus auf einer Müllhalde. Dabei werden Nachlässe übernommen, das Museum betrieben und eine umfangreiche Projektarbeit von der Konzeptentwicklung über die Beantragung bis zur Realisierung und Verwaltung geleistet. Das ist zweifellos eine immense Kulturleistung! Für sein ehrenamtliches Engagement in der Kommune erhielt Zabka den Kunstpreis der Stadt, einen Preis vom Landwirtschaftsministerium und einen vom Ostbeauftragten Carsten Schneider.

Auch der Denkmalschutz war begeistert, als im Gasthof ein einzigartiges Gesamtkunstwerk mit dem ehrwürdigen Gebäude in einen Dialog trat. Es wurde belebt, der Verfall gestoppt und alles prozessorientiert der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Installationen sind genau auf die Räume abgestimmt, daher wäre eine Anerkennung als abgeschlossene Sammlung Untergrundkunst der DDR unter Denkmalschutz oder Kulturschutz angemessen. Warum finden freie Kulturinitiativen keine Wertschätzung, die auf Engagement und demokratischen Lebensformen aufbauen und sich für eine demokratische Stadtgesellschaft einsetzen?

Das Lügenmuseum war von Anfang an ein Ort, an dem Menschen zu verschiedenen Anlässen wie Ausstellungseröffnungen, Konzerten, Lesungen oder Diskussionen zusammenkommen, kreativ, offen und kritisch miteinander in Dialog treten, Neues kennenlernen und Inspiration, Energie und Freude ernten können. Der Gasthof ist auch ein Produktionsort für bildende Künstler und dient der Vernetzung bürgerschaftlicher Initiativen. Aber es passt hierzulande offenbar in keine Kategorie: Es wird von der Politik in Sachsen weder als Museum akzeptiert noch ist es ein richtiges soziokulturelles Zentrum. Wir, das Lügenmuseum, sind zu lebendig für eine Gedenkstätte und Weltkulturerbe sind wir noch nicht.

Vorwegzugehen und neue Konzepte auf den Weg zu bringen, erfordert Pioniergeist, vor allem aber eine große Portion Mut und Engagement. Genau diese Werte lebt Zabka und sein ganzes Museumsnetzwerk, mit dem er seit mehr als 40 Jahren Kunstprojekte im öffentlichen Raum realisiert. Das Selbstverständnis ist partizipativ, temporär und interagiert direkt mit den Besuchern. Dieses setzt einen dynamischen Geist und aktive Herangehensweisen voraus. Das ist beispielhaft, wie sparsam ein denkmalgeschütztes Gebäude belebt werden kann. Sein ganzheitliches Gesamtkunstwerk und seine begehbaren Argumentationen einer gewitzten Vergegenwärtigung bedeuten Nachhaltigkeit und geben dem Ort eine neue Relevanz, eine Seelenrelevanz.

Die Kündigung vernichtet unserer wirtschaftliche Existenz, zerstört ein offenherziges Kulturzentrum und ein einzigartiges Gesamtkunstwerk der Friedlichen Revolution. Sie widerspricht eklatant der Fürsorgepflicht des Staates. Sie raubt uns die Aufbauleistung, die Sanierung und den angelegten Garten. Die Früchte unseres Feigenbaumes können wir nicht mehr ernten.

Der Stadtrat entschied sich gegen die Sanierung des ältesten Gasthofs der Lößnitz. Ein wirtschaftliches Interesse ist abwegig, da das Gebäude bereits viermal erfolglos zum Verkauf ausgeschrieben wurde. Die Stadt hat wesentliche Kosten gespart, denn Unterhalt und Erhalt werden durch uns als Betreiber erbracht.

Viele Kommunen haben historische Gebäude und suchen dafür händeringend Inhalt, Betreiber und motivierte Personen, die etwas bewegen können. Und Radebeul hat hier einen solchen, der die Fähigkeiten besitzt, eine unabhängige Kultureinrichtung mit Alleinstellungsmerkmal aufzubauen, zu betreiben, Probleme zu lösen und partizipative Kulturtechniken weiterzugeben.

Die letzte Kindergruppe war vom Lügenmuseum vollkommen begeistert. Ein Junge fragte, warum die Stadt das schließen will, wenn die Besucher in die Restaurants gehen, Hotels buchen und sie ja daran verdient.

Es ist besorgniserregend, dass die Härte und der Stillosigkeit einer Kündigung eines beispielhaften Kulturzentrums, die Kluft zwischen Bürgerwillen und Stadtverwaltung vergrößert und das Ansehen Radebeuls als Kulturstadt weiterhin verschlechtert. Letztendlich spricht das Drohszenario nicht dafür, sich mit guten Argumenten durchsetzen zu können. So gewinnt man keine Sympathien, weder in Radebeul noch in der Weltgemeinschaft.

Und nun? "Herr Zabka weiß schon, war er tut!"(Oberbürgermeister Bert Wendsche bei einer Besichtigung mit dem Bauamt 2012).

Ja genau so ist es, wir arbeiten an neuen Lösungsansätzen, wie beispielsweise der Gründung einer Radebeuler Bürgerstiftung, um dem Lügenmuseum regionale Wertschätzung und eine breite Einbindung zu ermöglichen. Hinter dem Museum stehen Künstlerinnen, Künstler und engagierte Menschen mit vielfältigen Kompetenzen, die das Lügenmuseum mit künstlerischen, ökologischen, soziokulturellen und nachhaltigen Ideen und Initiativen unterstützen. Der Künstler hat kein Interesse daran, dieses einzigartige Kulturgut von landesweiter Bedeutung wie Sperrmüll zu entsorgen.

Zeitgleich arbeiten wir weiter an unseren auswärtigen Kunstprojekten, unter anderem in Dresden, Frankfurt (Oder), Halle, Berlin und international. Viele Kulturinteressierte wären erleichtert und begeistert, wenn die unsichere Lage des Lügenmuseums in der Stadt Radebeul endlich eine positive Lösung finden kann.

Dorota und Reinhard Zabka
Radebeul, 1. Juni 2024
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